Fangen wir mal mit dem Fazit an: Auf jeden Fall ist das Thema des Buches relevant und aktuell. Auch die grundlegende Botschaft „Früherkennung nützt nicht immer und kann auch schaden“ ist richtig und wichtig und genauso die Aufforderung an den Leser, entsprechende Angebote kritisch zu hinterfragen. Und dennoch hinterlässt das Buch bei mir einen sehr gemischten Eindruck. Warum?
Das erste Kapitel zur Krebsfrüherkennung ist sehr gut gelungen. Der Autor Frank Wittig, Wissenschaftsjournalist beim SWR und Gutachter für den medien-doktor, arbeitet Nutzen und Schaden für Brustkrebs, Prostatakrebs und Hautkrebs gründlich auf. Dabei nennt er auch konkrete und aussagekräftige Zahlen, die möglichen Interessierten an einer Früherkennung bei der Entscheidung helfen können.
Warum die Teile zum Darmkrebs-Screening und zu gynäkologischen Krebserkrankungen in einem anderen Kapitel stehen, bleibt das Geheimnis des Autors (oder des Lektors, dem es nicht aufgefallen ist?). Gut aufgearbeitet ist auch im Abschnitt zu Darmkrebs-Screening die Diskrepanz zwischen den Nutzenbelegen für die Sigmoidoskopie aus randomisierten kontrollierten Studien und der in Deutschland gebräuchlichen Koloskopie, für die entsprechende Studien gerade erst durchgeführt werden. Dass RCTs für den Stuhltest auf verborgenes Blut allerdings ebenfalls eine Senkung der dickdarmkrebs-spezifischen Mortalität gezeigt haben, verschweigt Wittig. Richtig ist, dass die diagnostischen Eigenschaften des neueren iFOBT günstiger sind als die des bisher verwendeten gFOBT (mit dem aber die erwähnten RCTs durchgeführt wurden). Aus diesem Grund wird der iFOBT ab 2017 auch Kassenleistung. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches (2015) war das noch nicht der Fall – wären Verbraucher bisher dem Rat von Wittig gefolgt, müssten sie die Kosten dafür als IGeL-Leistung selbst tragen. Diese Information fehlt jedoch.
Zahlen und Fakten gibt es auch zum Screening auf Eierstock-Screening, während der folgende Abschnitt zum PAP-Test auf Gebärmutterhalskrebs etwas mehr Fleisch an den Knochen gebraucht hätte. Hier fehlen zum Beispiel Hinweise auf Studien zu verschiedenen Screening-Szenarien, auch in Verbindung mit HPV-Tests. Auch die große Varianz der Screening-Programme in verschiedenen Ländern hätte sicherlich größere Aufmerksamkeit verdient (lediglich Finnland ist als Beispiel genannt), denn sie illustriert sehr schön Werte- und Kostenabwägungen bei der Einführung von Screening-Programmen.
Viele Fragezeichen hat bei mir das Kapitel zum Check-up 35 hinterlassen. Hinter dieser Überschrift verbirgt sich eine lesenswerte Analyse der Früherkennungsuntersuchung. Allerdings gibt es auch ziemlich wirre Kapitel zu den einzelnen Komponenten (z.B. Cholesterin, Bluthochdruck etc.), bei denen Mythen, Verschwörungstheorien, Cochrane Reviews und belegte Fakten munter durcheinander gehen. Werden diese Laborwerte isoliert voneinander betrachtet und behandelt, ist das tatsächlich ein Problem und nicht sachgerecht.
Allerdings verschweigt der Autor, dass nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft schon seit mehr als 10 Jahren vielmehr das gesamte kardiovaskuläre Risiko abgeschätzt werden sollte (dazu hätte z.B. ein Blick in die aktuelle Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK genügt).In diese Abschätzung gehen eben nicht nur die Laborwerte, sondern auch Aspekte wie Alter, Rauchverhalten und eventuell zurückliegende Herzinfarkte ein.
Dass Cholesterin für das Herzinfarkt-Risiko gar keine Rolle spielt, ist nicht zutreffend. Einen Zusammenhang hat etwa die groß angelegte Framingham-Studie gezeigt, die erstaunlicherweise nicht erwähnt wird. Auch Krankheitsbilder wie eine familiäre Hypercholesterinämie, bei der die Betroffenen mit stark erhöhten Cholesterinspiegeln schon in jungen Jahren Herzinfarkte erleiden können, sprechen für einen Zusammenhang. Richtig ist, dass Cholesterin kein starker Risikofaktor ist, in der Vergangenheit zu häufig dämonisiert wurde und auf dieser Basis zu schnell Lipidsenker verordnet wurden. Deshalb braucht man sich, wenn man nur leicht erhöhte Cholesterinspiegel und sonst keine Risikofaktoren hat, auch keine unnötigen Sorgen machen. Eine solche differenzierte Darstellung habe ich jedoch in diesem Kapitel vermisst. Auch Verweise auf Literatur aus dem Kopp-Verlag finde ich nicht besonders vertrauenserweckend.
Ähnlich zwiespältig ist auch die Darstellung zum Nutzen der Statine: Richtig ist, dass sie nicht nur über eine Cholesterinsenkung, sondern auch andere Mechanismen wirken, und es nicht klar ist, wie groß der Anteil der Lipidsenkung tatsächlich ist (auch hier hätte wieder die erwähnte Leitlinie mit Hintergrundinformationen weitergeholfen). Aber auch hier fehlt die Differenzierung, dass Cholesterinspiegel als Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse und Cholesterinspiegel als (unzureichender) Surrogatparameter für Senkung des Herzinfarkt-Risikos durch Behandlung zwei verschiedene Aspekte sind.
Ob eine NNT von 50 für die präventive Wirkung von Statinen im Hinblick auf die Verhinderung eines Herzinfarkts viel oder wenig ist, werden unterschiedliche Patienten auch unterschiedlich beantworten. Aus gutem Grund gibt es deshalb inzwischen gut validierte Risikorechner wie ARRIBA, mit denen sich das kardiovaskuläre Risiko und auch die Therapieeffekte verschiedener Behandlungsoptionen darstellen lassen – und dann kann der Patient eine eigene informierte Entscheidung treffen. Mit der Darstellung in diesem Kapitel des Buchs von Frank Wittig ist das allerdings nicht möglich. Das betrifft auch die Darstellung der möglichen Nebenwirkungen nach dem Prinzip „Anecdote trumps evidence“ – da hier konkrete Zahlen fehlen, muss man diesen Abschnitt leider unter Panikmache subsummieren. Richtig ist der Hinweis auf einige Ungereimtheiten in den Behandlungsstudien mit Statinen. Wie groß die Zahlen zu Nutzen und Risiken der Statine sind, werden wir hoffentlich in den nächsten Jahren noch genauer erfahren – das BMJ plant nämlich eine unabhängige Auswertung der bisherigen Studien.
Ein Verdienst des Autors ist es sicherlich, dass er vielfache Belege für Interessenkonflikte in den Fachgesellschaften, gesponsorte Fortbildung, wissenschaftsresistente Ärzte und dubiose Marketing-Strategien der Pharmaindustrie zusammengetragen hat. Es ist vollkommen richtig, diese Machenschaften mit deutlichen Worten anzuprangern. Sehr hilfreich sind die letzten beiden Seiten mit Hinweisen zu verlässlichen Informationsquellen im Internet.
Das Buch liest sich insgesamt sehr flüssig, hätte für meinen Geschmack aber auch deutlich gestrafft werden können. Der Nutzwert wäre höher, wenn der Autor besonders bei den Krebs-Früherkennungsuntersuchungen noch zusammenfassende Übersichten mit den Zahlen zu Nutzen und Schaden eingefügt hätte (ähnlich wie die Faktenboxen des Harding-Center für Risikokompetenz). Insgesamt hätte dem Buch auch ein gründliches Korrektorat gut getan, da sich doch ziemlich viele Druckfehler und einige Ungereimtheiten bei den Referenzen finden.
Frank Wittig. Krank durch Früherkennung.
riva Verlag München 2015, ISBN 978-3-86883-630-1