Eigentlich war es zu erwarten: Ein Hersteller, dessen bereits zugelassenen Medikamente neu bewertet werden sollen, nutzt Schlupflöcher im AMNOG und klagt gegen das Verfahren. Hinter diesem scheinbar alltäglichen Geschehen versteckt sich allerdings ein häufig übersehenes Problem: Dass die Hürden für die Arzneimittel-Zulassung nicht so hoch sind, wie es im allgemeinen immer propagiert wird – und der Leidtragende ist der Patient.
Im konkreten Fall geht es um die Wirkstoffgruppe der Gliptine – Arzneistoffe, die bei Typ-2-Diabetes eingesetzt werden. In der modernen Medizin hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass das bisherige „glukozentrische“ Weltbild eigentlich nicht mehr zu halten ist. Anders gesagt: Bei Typ-2-Diabetes ist nicht der hohe Blutzucker das eigentliche Problem, sondern die Komplikationen, die daraus entstehen – allen voran die makrovaskulären Folgen wie etwa eine erhöhte Rate an Herzinfarkten. In der Fachwelt die Experten inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass der Langzeitblutzuckerwert HbA1c in vielen Fällen zwar als Maß dienen kann, um die mikrovaskulären Folgen wie Erblindung, Nierenschäden und Amputationen abzuschätzen (auch wenn das nicht immer unumstritten ist). Für die makrovaskulären Ereignisse scheint das aber nicht der Fall zu sein – man denke hier nur an die berühmte J-förmige Kurve zwischen HbA1c und Mortalität, die vor einigen Jahren in einer Metaanalyse im Lancet veröffentlicht wurde.
Umso mehr verwundert es, dass sich die europäische Arzneimittelagentur EMA für die Zulassungsstudien von Diabetes-Medikamenten immer noch mit der primären Zielgröße „Verbesserung des Glucose-Stoffwechsels“ – also HbA1c-Wert und andere Blutzuckermesswerte – zufriedengibt. Zu den patientenrelevanten Zielen heißt es in der entsprechenden Guideline lapidar:
Long term complications include macrovascular (coronary, cerebrovascular, and peripheral vascular diseases) and microvascular complications (retinopathy, nephropathy, and neuropathy). Beneficial
effects of the drug on development of these complications can only be evaluated properly in large scale and long term controlled clinical trials.
Dieser Zusage muss man ohne Einschränkungen zustimmen – aber warum fordert die Zulassungsbehörde bei neuen Diabetesmedikamenten dann nur Studien mit einer Dauer von unter einem Jahr – bei einer Erkrankung, mit der die Patienten in der Regel viele Jahre oder Jahrzehnte leben müssen? Das gilt umso mehr, als in der Vergangenheit für Arzneistoffe zwar in Studien eine Senkung der Blutzuckerwerte nachgewiesen werden konnte, tatsächlich aber das Risiko für Herzinfarkte anstieg – hier sei an das Beispiel Rosiglitazon erinnert.
Unverständlich sind die Anforderungen der Zulassungsbehörde vor allem auch deshalb, weil langfristige Studien für andere Indikationen ganz selbstverständlich sind – so war es ganz klar, dass etwa für den Thrombozytenaggregationshemmer Ticagrelor eine Zulassungsstudie mit einer Dauer von 5 Jahren notwendig war, denn sonst hätte man die Verringerung der Herzinfarktrate gar nicht feststellen können. Je nach Indikation wird also hier mit zweierlei Maß gemessen.
Wenn es nicht bereits für die Zulassung gefordert wird, hat ein Hersteller keinen Anreiz, tatsächlich die Studien mit dem neuen Medikament durchzuführen, mit denen man den patientenrelevanten Nutzen abschätzen kann. Und wenn Gerichte jetzt das AMNOG aushebeln und damit die Bewertung von zugelassenen Medikamenten verhindern, müssen die Patienten auf zuverlässige Daten wohl noch lange warten.