Mehr Diagnostik und mehr Therapien bedeuten nicht immer einen größeren Nutzen für den Patienten. Manchmal sind Tests und Behandlungen nur unnötig, im schlechtesten Fall können sie sogar schaden – zuallererst den Patienten, zunehmend aber auch durch enormen Ressourcenverbrauch das Gesundheitssystem.
In den USA hat sich bereits 2011 die Initiative „Choosing Wisely“ gegründet, die helfen will, Überversorgung in der Medizin zu reduzieren. Kernstück der Initiative sind „Top 5“-Listen, die von den einzelnen medizinischen Fachgesellschaften entwickelt werden. Sie enthalten jeweils fünf diagnostische oder therapeutische Maßnahmen, die häufig in der jeweiligen Fachdisziplin angewendet beziehungsweise verordnet werden, aber für einen wesentlichen Teil der Patienten nach dem derzeitigen Kenntnisstand keinen Nutzen mit sich bringen – unter Umständen können sie aber zu erheblichen Nebenwirkungen und/oder Kosten führen. Welche Prinzipien „Choosing Wisely“ zugrunde liegen, hat James McCormack in einem Musikvideo sehr anschaulich dargestellt.
Auf Deutschland sind diese Empfehlungen wegen der unterschiedlichen Versorgungssituation jedoch nicht 1:1 zu übertragen. Außerdem gibt es auch methodische Bedenken:
- Etablierte Prinzipien der medizinischen Entscheidungsfindung werden nicht berücksichtigt, z.B. die Beteiligung von Patienten, Transparenz des Vorgehens, Evidenzbasierung, Thematisierung von Interessenskonflikten, strukturierte Konsensfindung (vgl. Leitlinienentwicklung)
- Bedeuten die „fünf wichtigsten Probleme“ eine Priorisierung und wenn ja, auf welcher Basis? Außerdem muss klar werden, dass die Problematik von Über- und Fehlversorgung nicht auf diese Beispiele beschränkt ist.
- In manchen Bereichen ist auch Unterversorgung ein Problem (etwa bei der Schmerzbehandlung)
- Bisher keine Abstimmung zwischen den einzelnen Fachgesellschaften, daher gibt es teilweise Überschneidungen.
Mehr Informationen zum bisherigen Verlauf der Diskussion finden sich auf einem Themenportal des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.
Inzwischen hat sich unter der Federführung der Arbeitsgemeinschaft der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF) eine Ad-hoc-Kommission gegründet, die unter dem Namen „Gemeinsam klug entscheiden“ (GKE) die Kampagne weiterentwickelt. So sollen die deutschen Empfehlungen aus Negativempfehlungen in evidenzbasierten Leitlinien abgeleitet werden.
In einem Workshop auf der Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin wurde diskutiert, welche darüber hinausgehenden Kriterien sinnvoll sind. Diese Überlegungen sollen in ein Methodenpapier einfließen, das im Rahmen von „Gemeinsam klug entscheiden“ entsteht.
- Wie soll die Priorisierung erfolgen? Vorschlag: In Anlehnung an Priorisierung bei Qualitätsindikatoren, also z.B. häufige Probleme oder solche, die den Patienten besonders belasten. Dazu sind aber solide Daten aus der Versorgung notwendig. Mögliche weitere Kriterien: leichte Vermittelbarkeit für Patienten und die Umsetzbarkeit im Gesundheitswesen
- Welche Erkenntnissicherheit ist notwendig? Nur „starke“ Negativempfehlungen mit einbeziehen oder auch „schwache“? Letzteres bevorzugt die DEGAM bei der Entwicklung der Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung“
- Sollen auch ökonomische Überlegungen eine Rolle spielen?