Am Freitag habe ich beim Akademie-Tag des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin ein kurzes Impulsreferat gehalten. Inhaltlich ging es in der Session um das Thema Wissensmanagement – welche Herausforderungen und Lösungsansätze gibt es?
Mir ist der Part „Wissenstransfer“ zugefallen – also wie kriege ich die mühsam erstellten qualitativ hochwertigen Informationen auch tatsächlich an die Nutzer? Das ist nicht nur für das Netzwerk, sondern auch für viele andere Institutionen eine ständige Frage. Welche Möglichkeiten bietet da Social Media? Dazu habe ich einige Best-Practice-Beispiele vorgestellt.
Social Media bietet die Möglichkeit, die Wahrnehmung der Inhalte und auch die Reichweite zu erhöhen. Allerdings erschöpft sich die Nutzung von Social Media nicht darin, nur den Newsfeed in Twitter und Facebook reinzukippen. Die große Chance besteht darin, mit den Nutzern auch zu interagieren und in einen Dialog zu treten. Social Media ist also keine Einbahnstraße!
Wenn wir über evidenzbasierte Inhalte sprechen (z.B. qualitativ hochwertige Aufbereitungen von Studien, systematische Übersichtsarbeiten, Leitlinien, Patienteninformationen), sind es meist sehr komplexe und manchmal auch abstrakte Sachverhalte. Hinzu kommt, dass ein Dialog über diese Inhalte doch sehr differenziert sein muss. Passt das zu Social Media, das häufig immer noch als „seichtes“ Medium wahrgenommen wird, das sich höchstens für Katzenbilder und Verschwörungstheorien eignet?
Meiner Meinung nach unbedingt „Ja!“. Und hier ein paar Beispiele, die das belegen:
Social Media für Journals
Social Media kann traditionelle Medien des Wissenstransfers prima ergänzen. Ein gutes Beispiel ist das British Medical Journal, das konsequent auf „online first“ umgestellt hat: Die Zeitschrift ist auf Facebook und Twitter vertreten, ermöglicht aber auch mit Share Buttons das Teilen der Inhalte über die Homepage (keine Selbstverständlichkeit, auch nicht 2016!). Es gibt keine traditionellen Leserbriefe mehr, sondern die Möglichkeit, auf der Homepage eine „rapid response“ zu hinterlassen (also als Kommentar). Die wichtigsten der rapid responses landen dann auch in der Print-Ausgabe. Noch wichtiger dagegen finde ich, dass die Chefredakteurin auf Twitter aktiv ist – in der Vergangenheit hat sie sich auch schon häufiger in Diskussionen eingemischt, die sich an Artikeln im BMJ entzündet haben. Und auch für Autoren bietet die Nutzung von Social Media eine großartige Möglichkeit, auf die eigenen Artikel hinzuweisen und dann auch mit Lesern darüber zu diskutieren. Was das BMJ außerdem noch macht: Zu ausgewählten Artikeln gibt es einen Podcast mit Autoreninterviews – da gibt es für Interessierte noch einmal zahlreiche Hintergrundinformationen.
Social Media für Konferenzen
Auch Konferenzen profitieren von Social Media. Twittern unter einem Hashtag gehört inzwischen bei einigen medizinischen Kongressen bereits zum guten Ton. Das erhöht auch enorm die Reichweite: Beim letzten EbM-Kongress waren rund 550 Teilnehmer, von denen 15 getwittert haben. Damit konnten wir aber 80.000 Twitter-Accounts erreichen (reach) und mehr als 600.000 Tweets mit dem Hashtag #dnebm16 wurden ausgeliefert (impressions). Großartig fand ich auch, dass einige Follower, die gar nicht vor Ort waren, trotzdem über Twitter mitdiskutiert haben. Das lässt sich auch bei anderen Konferenzen beobachten.
Einige Konferenzen wie zum Beispiel das jährliche Cochrane Colloquium oder EvidenceLive zeichnen die Plenarvorträge auf und stellen sie auf YouTube – so können auch diejenigen partizipieren, die aus Geld- oder Zeitgründen nicht zur Konferenz kommen konnten. Den Werbeeffekt für die Konferenz, der durch solche Maßnahmen entsteht, darf man nicht unterschätzen.
Komplexe Inhalte zielgruppengerecht aufbereiten
Wenn komplexe Inhalte über Social Media transportiert werden sollen, müssen sie unbedingt aufbereitet werden. Wie das gehen kann, zeigt Cochrane UK: Im Blog „Evidently Cochrane“ gibt es Posts mit Zusammenfassungen von Cochrane Reviews. Allerdings sind das nicht einfach die Abstracts, sondern gezielt zugeschnittene Beiträge für verschiedene Zielgruppen. So gab es schon eine Reihe von Posts für Pflegepersonal, für Hebammen und natürlich immer wieder Patienten. Dabei kommen auch Patienten selbst zu Wort und verbinden ihre eigenen Erfahrungen mit der Evidenz aus den Cochrane Reviews. Zu einem Cochrane Review zu Zahnpflegemaßnahmen bei Zahnspangen-Trägern hat zum Beispiel die 15-jährige Tochter der Social-Media-Referentin gebloggt und geschildert, welche Konsequenzen sie aus dem Review zieht.
Gerade bei Twitter besteht eine Herausforderung ja auch in der notwendigen Kürze: Wie packt man einen Cochrane Review mit manchmal mehreren hundert Seiten in 140 Zeichen? Auch hier hatten die Mitarbeiter von Cochrane UK eine geniale Idee: Blogshots. In der Grafik werden die wichtigsten Eckpunkte der Reviews aufgelistet: Um welche Intervention ging es? Wie groß ist die Datenbasis? Welche Effekte wurden gefunden? Und wie verlässlich ist das Ganze? Die Umsetzung als Bild spart auf Twitter einiges an Zeichen – und darüber hinaus erschließt es auch noch andere Kanäle, die noch visueller sind, zum Beispiel Pinterest oder Instagram.
Abstrakte Inhalte anschaulich darstellen
Was bedeutet es, wenn die europäische Arzneimittelagentur EMA plant, dass Studiendaten zukünftig nur in einer Lesefassung angeboten werden – kein Drucken, kein Herunterladen möglich? Das ist wohl der Prototyp von abstrakten Fragestellungen. Dem IQWiG war die Problematik 2014 aber so wichtig, dass Mitarbeiter die #screenonly-Kampagne ins Leben gerufen haben: In witzigen Bildern stellten sie dar, wie diese Regelung die Arbeit des Instituts erschweren würde. Die Kampagne ging viral und die EMA nahm Abstand von ihren Plänen. Ein positiver Nebeneffekt: Das IQWiG wird häufig als Spaßbremse wahrgenommen, die immer an allen Studien was zu meckern finden. #screenonly hat aber gezeigt, dass die Mitarbeiter unglaublich viel Humor haben. Social Media kann also auch die Reputation aufbessern.
Innovative Formate für eine differenzierte Diskussion
„Wirkt“ – „wirkt nicht“ – die Diskussion um Therapien wird häufig darauf beschränkt, wird der Komplexität in der Regel aber nicht gerecht. Wie sind differenzierte Diskussionen mit Social Media möglich?
Ein spannendes Format (wieder aus UK) ist der National Elf Service. Für verschiedene medizinische Fachgebiete bloggen verschiedene Mitglieder über neue wichtige Studien – und sowohl die Studien als auch die Blogs werden sehr kontrovers diskutiert. So zum Beispiel ein Cochrane Review zum Nutzen von Methylphenidat bei ADHS. Bemerkenswert ist vor allem, dass auch die Cochrane Autoren in den Kommentaren mitdiskutierten. Weil sich dabei nicht alle Fragen lösen ließen, lud der Chefredakteur des Blogs zu einem Streitgespräch per Google Hangout. Daran nahmen nicht nur die Autoren, sondern auch Kliniker und Vertreter der Cochrane Editorial Unit teil. Die Diskussion ging bis tief in die methodischen Details, die aktuell auch innerhalb der Cochrane Collaboration noch nicht abschließend geklärt sind, etwa ob und wie Interessenkonflikte bei den eingeschlossenen Studien bei der Bewertung des Verzerrungspotentials berücksichtigt werden sollen. Der Google Hangout wurde aufgezeichnet und dann später auf YouTube veröffentlicht.
Ein weiteres Beispiel ist ein Journal Club auf Twitter: Unter dem Hashtag #wecats laden verschiedene Organisationen (u.a. wieder Cochrane UK) in regelmäßigen Abständen zur Diskussion aktueller Studien oder Reviews ein. Das Ganze funktioniert als TweetChat mit Fragen und Antworten. Rechtzeitig vor dem TweetChat werden das Paper (übrigens für diesen Anlass mit Open Access) und die relevanten Fragen veröffentlicht, so dass sich die Teilnehmer entsprechend vorbereiten können (und das tun sie auch tatsächlich).
Zu bedenken
Bevor man Social Media für den Wissenstransfer nutzt, muss man sich klar machen, dass es immer Teil eines Gesamtkonzepts sein muss. Die große Chance besteht darin, dass man über den Dialog mit den Nutzern auch Haltungen beeinflussen kann – häufig scheitert ein Wissenstransfer nämlich daran, nicht unbedingt am Wissen.
Klären sollte man weiterhin, welche Zielgruppen man genau erreichen will. Danach richtet sich nämlich, welche Inhalte man wie aufbereiten muss und welche Kanäle oder Plattformen geeignet sind. Das ganze gibt es natürlich nicht zum Null-Tarif, sondern es braucht auch die nötigen Ressourcen (Menschen und Geld). Und schließlich muss man auch über die eigene Haltung nachdenken: Habe ich tatsächlich Lust, in den Dialog zu treten? Und wie gehe ich damit um, wenn tatsächlich auch Menschen antworten und möglicherweise kritische Anmerkungen machen? Gerade bei größeren Organisationen ist es auch wichtig zu bedenken, dass mit Social Media auch Kontrolle verloren gehen kann: Eine Reaktion auf Nutzerkommentare kann nicht warten, bis eine Stellungnahme über 14 Tage im E-Mail-Umlauf des Vorstandes abgestimmt ist.
Fazit
Social Media bietet für den Wissenstransfer ein riesiges Potential. Und deshalb ist es auch nur konsequent, wie David Tovey (Chefredakteur der Cochrane Library) es in seinem Jahresbericht formuliert:
„Social media has become an ever-present feature of modern life, and will be a major element of our Knowledge Translation strategy…“