Eigentlich hätte sie pünktlich zur Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) veröffentlicht werden sollen: die neue Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) zur Therapie bei Typ-2-Diabetes. Vier Jahre lang hatten die beteiligten Fachgesellschaften die Evidenz gesichtet, bewertet und um Kompromisse bei den Empfehlungen gerungen. Das war alles andere als leicht. Bereits Mitte März konnte die Kurzfassung der NVL veröffentlicht werden, die als Kernstück den neuen Therapiealgorithmus umfasst. Bei diesen Empfehlungen konnten Vertreter von DDG und Deutscher Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) auf der einen Seite und der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) und Arzneimittelkommission der Ärzteschaft (AKdÄ) auf der anderen Seite keinen Konsens erzielen, deshalb wurde die unterschiedliche Einschätzung detailliert dokumentiert. So weit, so gut.
Weil es im Vergleich zur Konsentierungsfassung doch noch einige Änderungen gab, wartete der Leser gespannt auf die verabschiedete Langfassung. Die ließ allerdings auf sich warten. Ende April gab es auf der NVL-Homepage Bewegung, aber nicht in dem Sinne wie erwartet: Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) zog die Kurzfassung der NVL zurück. Die Begründung: „Im Vorfeld der Veröffentlichung der NVL „Therapie des Typ-2-Diabetes“ sind Versionen der Leitlinie in Umlauf gebracht worden, die von den Trägern des NVL-Programms nicht autorisiert sind.“ (ausführliche Stellungnahme hier).
Was war passiert? Die DDG hatte vorab eine Praxisempfehlung auf der Basis der NVL veröffentlicht. In ihrer Stellungnahme weist die Fachgesellschaft darauf hin, dass dieses Vorgehen vorab mit dem ÄZQ abgestimmt gewesen sei. Bei dieser Diskrepanz reibt sich der unbeteiligte Beobachter verwundert die Augen: Das ÄZQ war bisher eigentlich nicht dafür bekannt, dass es mühsam errungene Kompromisse leichtfertig aufs Spiel setzen würde – vielmehr sorgen die Mitarbeiter mit viel Einsatz dafür, auch zerstrittene Parteien wieder zurück an den Verhandlungstisch zu holen.
Befeuert wurde die Debatte auch durch verschiedene Veranstaltungen beim Diabetes-Kongress: Eigentlich hätte es eine Sitzung geben sollen, in der Vertreter der DDG und der DEGAM/AKdÄ jeweils ihre Positionen beim Therapiealgorithmus erklären. Die Vertreter von DEGAM und AKdÄ hatten jedoch kurzfristig mit der Begründung abgesagt,dass es zu diesem Zeitpunkt keine gültige NVL gebe. Dieses Vorgehen wurde in verschiedenen Beiträgen hart kritisiert und sicherlich hätte es auch Alternativen gegeben. Der DDG-Vertreter gab sich alle Mühe, den Therapiealgorithmus ausgewogen vorzustellen, konnte sich aber einige Seitenhiebe mit Zitaten aus E-Mail-Wechseln mit dem ÄZQ nicht verkneifen. Auch bei der Pressekonferenz am Freitag mittag gab es entsprechende Bemerkungen vom Präsidenten der DDG.
Umso mehr verwunderte aber ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin der DDG-Geschäftsstelle am späten Freitagnachmittag. Diese räumte ein, dass die DDG an dem Debakel doch eine wesentliche Mitschuld trägt. Zwar hatte die DDG – wenn auch sehr kurzfristig – eine Fassung der Praxisempfehlungen beim ÄZQ zur Freigabe eingereicht. In der dann tatsächlich veröffentlichten Fassung gab es aber in der Präambel, in der die unterschiedlichen Sichtweisen v.a. beim Therapiealgorithmus erklärt werden, noch Abweichungen, die das ÄZQ nicht freigegeben hatte. Daran hatte sich die aktuelle Kontroverse entzündet.
Die gute Nachricht für Patienten und Behandler: Die Kontroverse ist inzwischen beigelegt und die Veröffentlichung der Langfassung der NVL kann realistisch in zwei bis drei Wochen erwartet werden. Trotzdem bleibt ein schlechter Nachgeschmack: Welches Interesse verfolgt die DDG, wenn eine mögliche Inkonsistenz des ÄZQ in der Öffentlichkeit so breit getreten wird, die eigenen Versäumnisse aber fein säuberlich unter den Tisch gekehrt werden?