Benjamin Djulbegovic von der University of South Florida war beim EbM-Kongress als Keynote-Speaker eingeladen. Seinem Vortrag hatte er den Titel gegeben: „Rational decision-making: brains or guts or both?“
Der Referent erklärte anhand der Theorie von Daniel Kahneman, auf welchen Ebenen wir Entscheidungen treffen. „System 1“ entscheidet schnell, intuitiv, emotional; „System 2“ langsamer und analytischer. Diese beiden Systeme spielen auch bei der medizinischen Entscheidungsfindung eine Rolle.
Deshalb ist Evidenz – so Djulbegovic – für die medizinische Entscheidungsfindung notwendig, aber nicht ausreichend. Umgekehrt heißt das aber auch: Wenn ein Patient suboptimal behandelt wird, kann dafür fehlende Evidenz verantwortlich sein, aber auch eine suboptimale Entscheidungsfindung. Djulbegovic wies darauf hin, dass eine rationale Entscheidungsfindung sich immer auf den Prozess bezieht, nicht auf das, was gewählt wird.
Wichtig für die Entscheidungsfindung ist auch die Frage, wie wir Risiken betrachten: Mit System 1, also auf der emotionalen Ebene – dann reagieren wir intuitiv darauf – oder mit System 2: dann kann rationales Abwägen zum Tragen kommen. Daneben bestimmen aber auch noch andere Faktoren die Entscheidungsfindung, etwa Framing-Effekte.
Wie lassen sich System 1 und System 2 bei der Entscheidungsfindung integrieren? Djulbegovic schlägt dafür das Konzept der Reue vor. Ein Beispiel: Ein Student kommt zum Arzt mit Symptomen, die auf eine Meningitis hindeuten könnten, aber unklar sind. Jetzt muss der Arzt entscheiden: Soll er Antibiotika verschreiben? Nach Djulbegovic wäre der Reuefaktor kleiner, wenn der Arzt unnötig Antibiotika geben würden, als wenn er irrtümlich ein notwendiges Antibiotika nicht verordnet.
Ob das Konzept der Reue immer anwendbar ist, finde ich aber fraglich. Wie ist es etwa bei Entscheidungen, bei denen sich die Wahrscheinlichkeiten der jeweiligen Konsequenzen schlechter fassen lassen als bei dem Antibiotika-Beispiel, also z.B. wenn es schlecht abschätzbar ist, welche Folgen bestimmte Nebenwirkungen für einen Patienten haben? Auch wenn die Outcomes emotional unterschiedlich bewertet werden, also etwa die Hoffnung auf Heilung stärker wiegt als mögliche unerwünschte Effekte einer Intervention, scheint mir der Begriff der Reue nicht richtig fassbar.