Dass die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin nicht selten verdreht und nicht immer zum Wohl der Patienten eingesetzt werden, wurde in der jüngeren Vergangenheit bereits mehrfach diskutiert (siehe z.B. einen Beitrag im BMJ oder die Diskussion um „real oder rubbish EbM“).
Jetzt haben Trish Greenhalgh und ihre Kollegen von der „Evidence Based Medicine Renaissance Group“ die wichtigsten Fehlentwicklungen in einem Beitrag für das BMJ zusammengefasst. Ihrer Ansicht nach sind die Hauptprobleme:
- Missbrauch der „Marke“ EbM für verschiedene Interessen mit dem Resultat, dass besonders in industriegesponsorten Studien nicht selten nur Surrogatparameter statt patientenrelevanter Endpunkte untersucht werden und Studien mit negativen Resultaten unveröffentlicht bleiben.
- Die Menge der verfügbaren Evidenz ist riesig und für den Arzt nicht handhabbar (inkl. der medizinischen Leitlinien).
- In den durchgeführten Studien werden häufig nur Effekte von marginaler klinischer Relevanz entdeckt, die aber als statistisch signifikant angepriesen werden. Außerdem geht die Tendenz des Studienfokus weg von manifesten Erkrankungen, hin zum Management von Risikofaktoren („non-diseases“). Da gleichzeitig mögliche Nebenwirkungen zu wenig berichtet werden, ist es fraglich, ob daraus ein Nutzen für die Patienten entsteht.
- Überbetonung von klinischen Algorithmen und zunehmende Technologisierung bergen das Risiko, sich immer weiter von einer patientenzentrierten Medizin wegzubewegen.
- Multimorbide Patienten, die gerade bei älteren Menschen die Mehrheit des Krankheitsbildes ausmachen, sind in Studien unterrepräsentiert, weshalb die Problematik auch in Leitlinien in der Regel nicht abgebildet wird.
Um die Probleme anzugehen, schlagen die Autoren eine Reihe von Maßnahmen vor, die sich nicht nur an Ärzte, sondern auch an selbstbewusste Patienten, Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften und politische Entscheidungsträger richten. Dazu gehört etwa die konsequente Umsetzung von shared decision making inklusive einer angemessenen Aufbereitung der Evidenz.
Die Autoren weisen darauf hin, dass einige der Probleme bereits thematisiert werden. Das geschieht etwa in Kapagnen wie „Preventing overdiagnosis“ oder „AllTrials“.
Die nächste Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin beschäftigt sich übrigens mit einem ähnlichen Thema: “ „EbM zwischen Best Practice und inflationärem Gebrauch.
BMJ 2014;348:g3725